Übersetzung aus dem Niederländischen?

 

 

Weddige ist, wie gesagt, der Meinung, dass Cpg 363 eine Abschrift einer deutschen Übersetzung des alten niederländischen „Ogier van Denemerken“-Zyklus ist. Hilkert Weddige schreibt Cpg 363 dementsprechend etwa dieselbe Vorgeschichte zu wie dem „Malagis“ und dem „Reinolt von Montalban“. Von diesen beiden Werken existieren neben einigen mittelniederländischen Fragmenten sogar jeweils zwei Heidelberger Abschriften.[1] Die Heidelberger „Malagis“- und „Reinolt“-Handschriften beruhen auf verschwundenen mittelfränkischen oder ripuarischen Vorbildern, deren Sprache deutliche Spuren in den Abschriften hinterlassen hat. Martin Schubert weist darauf hin, dass „Ogier von Dänemark“ sich davon in soweit unterscheidet, dass in Cpg 363 keine Reste einer mittelfränkischen Zwischenschicht vorhanden sind (Schubert 2002, 62-62). Das stimmt mit unserer Feststellung überein, dass in „Ogier von Dänemark“ nur zwei Sprachschichten fassbar sind: ein westflämisches Substrat und ein rheinfränkisches Superstrat. Mit anderen Worten: wenn Cpg 363 eine Übersetzung aus dem Mittelniederländischen wäre, dann kann diese nur in Heidelberg entstanden sein.

Aber der Frage, wo diese sogenannte deutsche Übersetzung von „Ogier van Denemerken“ entstanden sein könnte, muss eine ernsthafte Reflexion über den Terminus „Übersetzung“ vorangestellt werden. Und das gilt in gleichem Maße auch für den „Malagis“ und für den „Reinolt von Montalban“. Solange das Niederländische und das Deutsche nicht über eine eigene Standardsprache verfügten – und das war grosso modo der Fall bis etwa zum sechzehnten Jahrhundert – waren beide Teil eines einzigen großen germanischen Sprachenkontinuums. Davor war es rein theoretisch ausgeschlossen, um vom Niederländischen ins Deutsche oder umgekehrt zu übersetzen, denn das geht nur von einer Sprache in die andere. Das klingt zunächst sehr theoretisch, aber es hat ernste Folgen für die Überlieferung mittelalterlicher Texte. Wenn jemand aus Heidelberg ein Exemplar von einem Text aus Bayern haben wollte, dann engagierte er dazu keinen Übersetzer, sondern einen Abschreiber. Und das funktionierte auf die gleiche Art und Weise, wenn der Quellentext wie im Falle des „Ogier von Dänemark“ aus Flandern stammte. Letzteres wird wahrscheinlich nicht sehr oft vorgekommen sein. Für den Austausch von Texten über einen so großen Abstand schaltete man wahrscheinlich automatisch über auf das Lateinische als universelle Gelehrtensprache jener Zeit. Aber bei einem literarischen Text in der Volkssprache war das nicht beabsichtigt. Wenn ein Heidelberger Auftraggeber ein Exemplar eines ursprünglich flämischen Textes haben wollte, vertraute er diese Aufgabe nicht einem Übersetzer, sondern einem Abschreiber an.

Mittelalterliche deutsche Kopisten waren genau wie ihre Kollegen in den Niederlanden gewohnt, Texte, die in einer anderen als ihrer eigenen Varietät jener gemeinsamen germanischen Sprache geschrieben waren, beim Abschreiben currente calamo ihrem eigenen Idiom anzupassen. Das funktionierte sehr gut bei benachbarten Varietäten, und geschriebene Texte blieben auch über weite Entfernungen hinweg immer noch verständlich. Aber das Verständlichkeitsproblem wuchs, je größer die räumliche Entfernung wurde. Personen die durch realen mündlichen Sprachkontakt mit weit auseinanderliegenden Varietäten vertraut waren  (zum Beispiel Kaufleute der deutschen Hanse oder der eine oder andere Gelehrte, Künstler oder Diplomat, der über die nötige Reiseerfahrung verfügte), werden das sehr deutlich empfunden haben. Aber das war nur eine kleine spezialisierte Minderheit, die die damals allgemeine Meinung kaum beeinflussen konnte.

 

 


 

[1] Siehe Abschnitt „Der Auftraggeber bzw. die Auftraggeberin von Cpg 363“.

 

Literaturhistorischer Hintergrund <— —> Kopieren versus Übersetzen