Verirrte Zeilen

 

 

Cpg 363 enthält zwei auffallende Abschreibefehler, die nur aufmerksame Leser bemerken. Sogar Hilkert Weddige, der als Herausgeber eng am Text arbeitete, sind sie entgangen. Gemeint sind die Zeilen 5436-5461 und 5462-5488 bzw. 18468-18493 und 18494-18520. Es handelt sich um zweimal zwei Textblöcke von je etwa 26 Zeilen, die vertauscht worden sind, als ob der Kopist in beiden Fällen zunächst die Verso- und danach erst die Rectoseite eines Blattes abgeschrieben hätte. Wenn ein Abschreiber die Vorderseite eines Blattes übersieht und irrtümlicherweise mit der Rückseite anfängt, ist das wahrscheinlichste Resultat, dass er nach der Versoseite einfach mit der nächsten Rectoseite weitergeht.[1] In der Folge ist dann der Text der übersprungenen Rectoseite verloren. Anders in Cpg 363. Beide Male scheint der Kopist zuerst die Rückseite und dann erst die Vorderseite eines Blattes abgeschrieben zu haben, ohne den Leser darauf aufmerksam zu machen. Wahrscheinlich hat er es also selbst nicht mal gemerkt.

Weil ein solcher Fehler bei einem gebundenen Buch als Vorlage sehr unwahrscheinlich ist, muss die Erklärung für diese Umstellung in einem ungebundenen Exemplar gesucht werden. Wenn dieses nämlich aus einem Stapel von zweiseitig mit jeweils ca. 26 Zeilen beschrifteten Bögen bestand, und wenn zwei dieser Blätter aus Versehen seitenverkehrt in den Stapel gelangt waren, dann bekommt man genau den Zustand, wie wir ihn in Cpg 363 vorfinden. Aber in dem Fall muss der Stapel aus Einzel- und nicht aus Doppelblättern bestanden haben. Und das kann eigentlich nur bedeuten, dass dieses ungebundene Exemplar das Manuskript des Dichters gewesen sein muss, denn Kopisten beschriften keine Einzelblätter, weil die sich schlecht einbinden lassen. Die beiden Fehler müssen also in allen Abschriften, auch in dem ältesten, dem Dedikationsexemplar des Dichters für die Auftraggeberin, gestanden haben, ohne dass sie hinterher jemandem aufgefallen sind oder von jemandem korrigiert wurden.

Wenn wir jetzt in Betracht ziehen, dass der niederländische Text nicht älter ist als aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, und dass Flúgels Kopie noch keine dreißig Jahre später 500 Kilometer entfernt vollendet wurde, dann bleibt nur sehr wenig Zeit für das Entstehen einer langen Überlieferungskette. Wie konnte „Ogier van Denemerken“ in so kurzer Zeit einen solch großen Abstand überbrücken?  Ist es vermessen anzunehmen, dass Ludwig Flúgel das Dedikationsexemplar des Verfassers als Vorlage verwendet haben könnte? Aber wie und warum gelangte es nach Heidelberg?

 

 


 

[1] Wenn er seinen Fehler bemerkt, wird er mit Hinweiszeichen oder Anmerkungen am Rand verdeutlichen, dass ein Textabschnitt verschoben worden ist. Ähnliche Hinweise fehlen an den entsprechenden Stellen in Cpg 363.

 

Kopieren versus Übersetzen <— —> Der Verfasser und die Auftraggeberin von ‘Ogier van Denemerken’