Das Rekonstruieren eines verlorenen Textes ist eine heikle Angelegenheit, an die man sich nicht herantrauen sollte, wenn es dazu keine dringenden Gründe gibt. Im Fall von „Ogier von Dänemark“ kommt man nicht darum herum, wenn man den Text verstehen will. Die Edition von 2002 zeigt, dass Cpg 363 zahllose Probleme enthält, die nicht gelöst werden können, wenn man die Verbindungen mit dem Mittelniederländischen nicht erkennt. Letzteres ist für deutsche Leser nicht selbstverständlich. Aber auch umgekehrt werden die meisten Medioniederlandisten vermutlich genauso ernsthafte Probleme bekommen bei der Lektüre von Flúgels merkwürdem Mittelhochdeutsch. Darum ist eine Rekonstruktion in diesem Fall schlicht unumgänglich.
Beim ersten Kontakt mit „Ogier von Dänemark“ haben wir einige Male versucht, einzelne Wörter oder Textabschnitte größeren oder kleineren Umfangs zu analysieren und aus dem Rückgriff auf den niederländischen Quellentext zu erklären (Berteloot 2004 und Berteloot 2011). Auf die Dauer ist diese Vorgehensweise jedoch unbefriedigend, weil der Leser auf diese Art und Weise eine große Anzahl Detailanalysen vorgesetzt bekommt, jedoch keine Chance, das Werk als Ganzes kennenzulernen. Das ist der Grund, weswegen wir uns schließlich doch an eine Rekonstruktion des kompletten Heidelberger Zyklus getraut haben. Methodisch haben wir uns dabei des „Ockhamschen Rasiermessers“ [1] bedient, das bedeutet dass wir bei mehreren Alternativen die Präferenz immer der einfachsten Lösung gegeben haben, im vollen Bewusstsein, dass dennoch viele Enscheidungen anfechtbar und verbesserungsfähig sind. Das Ergebnis ist eine tentative Rekonstruktion von Flúgels Vorlage oder eine „hertaling“ [2] von Cpg 363 ins Mittelniederländische.
Bei der Analyse von Flúgels Arbeitsweise und bei der Rekonstruktion von „Ogier van Denemerken“ sind zwei wichtige Erfahrungen für uns von großem Nutzen gewesen. Die erste ist der jahrelange Umgang mit Niederländisch lernenden deutschen Studenten, der besonders empfindlich macht für Interferenzfehler. Auf der anderen Seite steht die sprachgeographische Untersuchung von sowohl amtlichem wie literarischem Mittelniederländisch, wobei wir dem Anteil jedes einzelnen Kopisten und der Praxis des Abschreibens von Texten immer eine zentrale Bedeutung eingeräumt haben.
Will man die Vorlage von Cpg 363 rekonstruieren, dann muss man dauernd versuchen, sich in die Lage von Ludwig Flúgel hineinzudenken. Die zentrale Frage lautet immer: Was hat der Kopist in seiner Vorlage gelesen? Dabei gehen wir von einigen Voraussetzungen aus, von denen wir annehmen bzw. von denen die Forschung gezeigt hat, dass der niederländische Quellentext sie erfüllt haben muss:
(1) Der niederländische Text war eine weitestgehend sinnvolle und zusammenhängende Geschichte ohne unsinnige Einschübe und Sprünge.
(2) Der niederländische Text bestand aus paarweise reimenden Versen. Unregelmäßigkeiten auf diesem Gebiet weisen auf Ergänzungen oder auf den Verlust von Versen hin. Es ist nicht ausgeschlossen, dass bestimmte Unregelmäßigkeiten in den Reimen, wie zum Beispiel Assonanzen oder Dreierreime, vorhanden waren. Die gehören zu den dichterischen Freiheiten. Ludwig Flúgel mied wie alle Kopisten literarischer Texte allzu große Eingriffe in das Reimmaterial. Wenn ihm nicht spontan ein deutsches Reimpaar einfiel, behielt er mindestens eines der beiden Reimwörter bei. Die Reime sind deswegen der wichtigste Orientierungspunkt bei der Textrekonstruktion.
(3) Der Text zeigt überwiegend die Merkmale des südwestlichen Mittelniederländischen. Erscheinungen, Wörter und Ausdrücke, die dazu im Widerspruch stehen, sind nicht a priori ausgeschlossen, sondern erfordern eine genauere Untersuchung. Der Rekonstruktion wurde deswegen auch eine leichte flämische Sprachfärbung gegeben. Das bedeutet, dass wir Formen verwenden wie „ic bem“ (statt „ic ben“, ich bin), Schreibweisen wie ‚ou‘ statt ‚oe‘ für [u] („bouc“ (Buch), „roupen“ (rufen), „ghenouch“ (genug)), Rundungen wie „rudder“ (statt „ridder“ ( Ritter)) bzw. Entrundungen wie „stic“ und „pit“ (statt „stuc“ (Stück) und „put“ (Brunnen)), „of“ statt „af“ (ab) und „brochte“ statt „brachte“ (brachte), Palatalisierungen wie „up“ (statt „op“ (auf)) und „vul“ (statt „vol“ (voll)), „liede“ und „stieren“ statt „lude“ (Leute) und „sturen“ (steuern, lenken) u.ä. Auf andere typisch flämische Merkmale wie das Hinzufügen oder Auslassen des ‘h’, den Gebrauch des Personalpronomens „soe“ anstelle von „sij“ (sie) oder das Präfix ‚y-‚ anstelle von „ghe-„ haben wir wegen der besseren Lesbarkeit verzichtet.
(4) Der Text muss um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts entstanden sein, wobei „Ogiers kintheit“ als die Wiederverwertung eines älteren mittelniederländischen Textes verstanden werden muss, während „Ogiers outheit“ eine Neuübersetzung aus dem Französischen darstellt. Wir gebrauchen deswegen synkopierte Formen wie „hi heeft“ statt „hi hevet“ (er hat) und „ghi moocht“ statt „ghi moghet“ (ihr dürft).[3] Zudem haben wir es mit einem Verstext jüngeren Typs zu tun, was impliziert, dass Vers- und Satzgrenzen an vielen Stellen nicht zusammenfallen. Das bedeutet, dass man manchmal lange Sätze und Zeilensprünge erwarten darf.
(5) Der Text ist Teil der mittelniederländischen epischen Literatur und nutzt dementsprechend auch Ausdrücke und Konventionen, die in dieser Gattung üblich sind. Das gilt zum Beispiel für Füllwörter und andere feste Ausdrücke sowie für (fast) wörtliche Übereinstimmungen mit anderen mittelniederländischen Verstexten. Letztere werden in den Anmerkungen erwähnt.
Zum Schluss noch einige Einzelheiten:
Ergänzungen: An einigen Stellen hat Ludwig Flúgel wie jeder andere Kopist beim Abschreiben aus Versehen Elemente ausgelassen. Wenn es um Einzelwörter geht, haben wir diese ergänzt und mit einer erklärenden Anmerkung versehen. Wenn komplette Zeilen verschwunden sind, signalisieren wir das im Text mittels dreier Punkte zwischen spitzen Klammern (<…>). Wenn die Zeile ganz oder teilweise rekonstruierbar ist, steht das wiederhergestellte Textfragment ebenfalls zwischen ebensolchen Klammern.[4] Ergänzungen unsererseits werden in den Anmerkungen immer kommentiert.
Auslassungen: Ein einziges Mal (Zeile 8816) steht ein Vers, der aus Versehen doppelt abgeschrieben worden ist, zwischen viereckigen Klammern ([…]). In der Anmerkung wird darauf hingewiesen, dass dies weggelassen werden kann.
Umstellungen im Text: Der guten Lesbarkeit zuliebe wird im rekonstruierten Text und in der deutschen Übersetzung die richtige Reihenfolge von umgestellten Zeilen oder Textblöcken wiederhergestellt. Dadurch laufen die Rekonstruktion und die Übersetzung manchmal nicht parallel zum Faksimile und zur Transkription. In den Anmerkungen wird auf die Umstellungen aufmerksam gemacht.
Zeilennummerierung: Anders als in der Transkription wird in der Rekonstruktion auf eventuell verschwundene Verszeilen hingewiesen. Um die Zeilennummerierung, die parallel läuft zum Faksimile und zur Edition in Weddige 2002, nicht zu stören, gebrauchen wir in solchen Fällen die Buchstaben ‚a‘, ‚b‘, ‚c‘ u.s.w., die an die Verszahl angehängt werden.
Die Anmerkungen in der Rekonstruktionsschicht: Die Rekonstruktionsschicht benutzt sieben Arten von Anmerkungen, und zwar zu der Abschnittsnummerierung (hoofdstuknummers), zu der sprachlichen Umsetzung (hertaling), zur Textkritik (tekstkritiek), zur Wortbedeutung (woordverklaring), zu den Eigennamen (eigennaam), zur Parellelüberlieferung (paralleloverlevering) und zu der Edition von 2002 (Weddige). Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass es nicht immer möglich ist, diese Anmerkungstypen immer haarscharf voneinander zu unterscheiden. So ist die Worterklärung bei den Entscheidungen von großem Interesse, die bei der Rekonstruktion getroffen wurden. „Hertalingsnoten“ enthalten deswegen auch oft Worterklärungen. Es empfiehlt sich also bei der kritischen Lektüre des Textes, die diversen Anmerkungstypen im Auge zu behalten.
Abschnittszahlen (hoofdstuknummers): Für die Abschnittsnummern gilt dasselbe, was oben im Absatz über die Transkription gesagt wurde. Die Abschnittszählung läuft selbstverständlich in allen Versionen parallel.
Anmerkungen zur Textrekonstruktion (hertalingsnoten): In diesen Anmerkungen wird die Begründung für eine Anzahl von Entscheidungen geliefert, die beim Rekonstruieren des Textes getroffen worden sind. Die Anmerkungen beginnen normalerweise mit der kursiv wiedergegebenen Textstelle, der zwischen Klammern das deutsche Vorbild aus Cpg 363 folgt. Letzteres wird eingeleitet von einem ‚<‘-Zeichen, das an dieser Stelle gelesen werden soll als „rekonstruiert aus“. Wenn die vorgeschlagene Lösung rein auf Vermutungen beruht, findet man hier den Hinweis „speculatief“.
Textkritik (Tekstkritiek): In den textkritischen Anmerkungen wird auf Unregelmäßigkeiten in den Reimen (zum Beispiel Waisen oder Dreierreime) hingewiesen, die den Verlust oder das Hinzufügen von Zeilen signalisieren können. Hier werden auch die oben beschriebenen, vom Kopisten nicht markierten Umstellungen größerer Textabschnitte beschrieben.
Worterklärung (Woordverklaring): Um einerseits die Lektüre des niederländischen Textes zu erleichtern, und anderseits die Textrekonstruktion zusäzlich zu untermauern, werden manche Wörter und Ausdrücke bis hin zu ganzen Sätzen in diesen Anmerkungen erklärt. Die Worterklärungen beruhen meist direkt auf dem „Middelnederlandsch Woordenboek“ (MNW). Auch ohne dass die Erklärungen als solche markiert sind, handelt es sich nahezu immer um direkte oder leicht abgeänderte Zitate aus dem großen Wörterbuch von Eelco Verwijs und Jacob Verdam. In einigen Fällen, in denen dies für die Argumentation relevant war, haben wir die zitierten Abschnitte als solche gekennzeichnet. Wenn weder im MNW, noch im „Handwoordenboek“ (MNHW), noch im „Supplement“ op het „Handwoordenboek“ (SUP) oder im „Vroegmiddelnederlands Woordenboek“ (VMNW) eine passende Bedeutung für ein bestimmtes Wort gefunden wurde, haben wir unseren Vorschlag mit einem Fragezeichen versehen.
Eigennamen (eigennaam): Die Personen- und Ortsnamen wurden in mittelalterlichen Texten häufig heftig entstellt. Für heutige Leser ist es eher notwendig, dass dieselbe Person so weit wie irgendmöglich immer unter demselben Namen erscheint. Diese Entscheidungen und andere Probleme, die sich bei den Eigennamen ergeben, werden in diesem Anmerkungstyp behandelt. Selbstverständlich wird hier regelmäßig auf das „Namenverzeichnis“ von Hilkert Weddige (WeRe) und das digitale „Repertorium van eigennamen in Middelnederlandse literaire teksten“ (REMLT) hingewiesen. Letzteres enthält sämtliche „Ogier von Dänemark“-Eigennamen in der Form, in der sie in Cpg 363 erscheinen und mit den Interpretationen, die WeRe vorschlägt. Die Eigennamen-Anmerkungen enthalten einige Vorschläge zur Korrektur dieser Daten.
Parallelüberlieferung (paralleloverlevering): Eine Edition von Cpg 363 muss notwendigerweise auch die alten mittelniederländischen Fragmente, insbesondere jene von „Ogiers kintheit“ berücksichtigen. Der Dichter aus dem 15. Jahrhundert hat die alte Übersetzung überarbeitet und modernisiert, so dass man den Text der Fragmente nicht als Ausgangspunkt für die Edition nehmen kann. Trotzdem sind die Fragmente wichtig, um Flúgels oft stark ramponierten Text zu überprüfen. In den Anmerkungen unter dem Label „paralleloverlevering“ wird jeweils der Anfang und das Ende des Vergleichstextes in den Fragmenten signalisiert.
Weddige: Bei der Rekonstruktion des niederländischen Textes kann man die Edition Weddige 2002 nicht ignorieren. In einigen Fällen ist die Interpretation von Hilkert Weddige zweifelsfrei sinnvoll, aber in anderen Fällen weicht unsere Rekonstruktion in beträchtlichem Maße von Weddiges Meinung ab. Diese Fälle – sowohl Zustimmung wie Ablehnung – werden in den Weddige-Anmerkungen genannt und diskutiert. Soweit Weddige in seinen Fußnoten (WeNo) oder in seinem Wortverzeichnis (WeGl) anfechtbare deutsche Übersetzungen anbietet, werden diese in der Übersetzungsschicht zur Diskussion gestellt.
[1] Die berühmte Sentenz „entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem“ (Wesensbegriffe müssen nicht unnötig vermehrt werden).
[2] Weil Ludwig Flúgels Text keine „Übersetzung“ (nl. „vertaling“) aus dem Mittelniederländischen ist, kann man die Rekonstruktion des Textes ebensowenig eine „Übersetzung“ als eine „Rückübersetzung (nl. „hervertaling“) nennen. Wir benutzen im Niederländischen deswegen den Begriff „hertaling“ (etwa „Neuversprachlichung“).
[3] Siehe Abschnitt „Die eLaborate-Edition 2019“.
[4] Zum Beispiel die Zeilen 10133a, 17203a und 20091a.